Verletzt, fit und verflixt heiss 1


Es war ein langer Marathon, bevor ich am 21. September 2025 zum vierten Mal beim Berliner Marathon an der Startlinie stand. Denn ein knappes Jahr zuvor begann die Vorbereitung mit einer Enttäuschung. Erstmal seit 2016 hatte ich kein Glück bei der Startplatzverlosung und stand ohne Startnummer da. Da ich mich aber gerade zu der Zeit im November 2024 so fit wie lange nicht fühlte, war die Enttäuschung so groß, dass ich mich diesmal entschieden habe, mein Glück zu versuchen und mich um einen Charity-Startplatz zu bewerben.

Dazu musste ich ja lediglich die Kleinigkeit von knapp 780 Euro sammeln, um den Startplatz geschenkt zu bekommen. Da hatte ich doch meine Skepsis, ob das klappen würde. Doch auf Freunde, Verwandte und Kollegen ist Verlass und schon nach wenigen Tagen war mein Ticket für den Startplatz in Berlin gesichert: 961 Euro sind für die Stiftung Kinderherz zusammen gekommen.

Nun brauchte ich nur noch dem Greif-Trainingsplan zu folgen und einem vierten Marathonstart nach 2017, 2019 und 2021 stand nichts mehr im Weg.

Doch schon im Februar die erste Ernüchterung: Es war die rechte Wade, die mal wieder Ärger machte und mich zu einer Pause zwang, aber es war ja noch Zeit und nach einigen Wochen Zwangspause war das Frühjahr eine gute Zeit. Im Juni fühlte ich mich sogar so gut, dass ich voller Enthusiasmus eine Juni-Streak mit Lasse gestartet habe – jeden Tag mindestens 2,4 Kilometer Laufen. Übermut tut selten gut und diese tägliche Belastung war so gar nichts für meine Knie, die schon nach wenigen Tagen streikten. Diesen Streik habe ich natürlich ignoriert – ein Fehler, so dass am 8. Juni gar nichts mehr ging. Die Schmerzen waren so schlimm, dass ich tatsächlich zwei Monate pausieren musste.

Der Marathon war damit eigentlich Geschichte, definitiv abgehakt. Am 16. August habe ich es dann nochmal versucht und die Schmerzen waren tatsächlich weg. Es hat gleich für 10 Kilometer gereicht und es gab ja noch drei Wochen bis zum Tapering. Ich habe dazu ChatGPT gefragt, ob man sich auch in einem Monat für einen Marathon vorbereiten kann. Um es kurz zu machen: Wird nicht empfohlen – Überraschung.

Nur eine Woche später bin ich einen Halbmarathon gelaufen, noch eine Woche später hat es mit den 25 Kilometer geklappt, nur der letzte lange Lauf – die Generalprobe – war kein Erfolg. Geplant waren über 30 Kilometer, aber nach 28 km war definitiv Schluss. Macht nichts, dachte ich mir, es war auch viel zu warm und Berlin wird es ja angenehme Herbsttemperaturen geben … hätte ich geahnt, was kommt.

Ok, also keine 30 Kilometer in der Vorbereitung und natürlich viel zu wenig lange Läufe. Auf Tempoläufe habe ich gänzlich verzichtet – die Zeit konnte diesmal keine Rolle spielen. Doch dann der Schock eine Woche vor Berlin: Beim Tapering-Lauf über 20 Kilometer musste ich mich nach 7 Kilometer abholen lassen – die Wade (siehe Februar) war zurück. Ok, es waren nun nur kurze, aber intensive Vier-Wochen-Vorbereitung, aber die Vorfreude war schon so groß, das konnte es doch nicht gewesen sein. Was tun? Termin beim Physio machen und viel Teufelssalbe benutzen. Am Dienstag waren die Schmerzen ohne Belastung weg, aber den letzten Probelauf habe ich erst am Donnerstagabend gemacht. Nach einem Kilometer habe ich die Wade wieder gespürt – keine Schmerzen, aber in Ordnung war sie noch nicht wieder. Also habe ich auch diesen Lauf abgebrochen und dachte, ich gehe All-In. Noch zwei Tage Pause, dann werden die 42,195 Kilometer bis zum Brandenburger Tor schon irgendwie klappen.

Gibt es Zeichen, dass man lieber nicht starten sollte? Die Verletzungen im Laufe der Vorbereitung, der abgebrochene letzte Long-Run, die Wadenprobleme eine Woche vor Berlin, der abgebrochene Testlauf? Möglich. Wenn dann auch noch das Auto bei der Anreise streikt, sollte man das vielleicht als Warnung deuten. Kurz vor Hamburg machte der Zafira schlapp – Wadenprobleme. Das Auto fuhr gedrosselt ohne Power. Kam mir irgendwie bekannt vor. Also mussten wir zunächst noch eine Werkstatt aufsuchen: „Probleme mit dem Turbolader, die Warnmeldung habe ich aber erstmal zurückgestellt.“ Soll heißen, der Wagen fuhr zunächst wieder auf volle Leistung, das Problem könnte aber jederzeit wieder auftreten (Spoiler: Auch 1000 Kilometer später ist bisher nichts passiert.).

Samstag dann der Besuch bei der Expo, um die Startunterlagen abzuholen. Der Moment mit der ersten Gänsehaut, wenn Tausende gleichgesinnte durch die Hallen strömen in einer entspannt-angespannten Atmosphäre. Die Organisation ist wie immer perfekt. Auch wenn die App-Ampel rot zeigt (erhöhter Besucherandrang), gibt es kaum Wartezeiten und von allen Seiten freundliche Worte. So habe ich ruckzuck meine Startnummer in der Hand und kaufe mir beim Adidas-Merch noch eine Kopfbedeckung, denn – und das trübt die gute Laune – es soll heiß werden am Sonntag. Schon in der Woche zuvor haben die Veranstalter mehrere Warnhinweise und Tipps zum Umgang „Laufen bei Hitze“ versendet.

Sonntag – Marathontag. Als erfahrenerer Berlin-Marathonläufer verzichte ich darauf übermäßig früh im Startblock zu stehen … äh, wollte ich darauf verzichten, übermäßig früh im Startblock zu stehen … ach, was soll’s: Ich bin so aufgeregt, dass ich wieder viel zu früh in meinem Startblock G stehe. Aber auf den großen Videoleinwänden, die in allen Startblöcken aufgestellt sind, wird man gut unterhalten. So können wir gemeinsam, die Toppläufer anfeuern, die bereits um 9:15 Uhr starten und auch die weiteren Starts feiern, bevor wir langsam zur Startlinie geführt werden. Ich gehe nochmal meine eigene Renntaktik durch und die ist diesmal simple: Langsam Laufen, Puls unten halten und jede Getränke- und Verpflegungsstation in Ruhe mitnehmen.

10:10 Uhr Startschuss. Und wie immer Gänsehaut. Beim Lauf auf die Siegessäule kann ich ein Dauergrinsen nicht abstellen, es ist so schön hier zu laufen. Doch dann gehen die Gedanken zur Wade – spüre ich da schon was? War das ein Zucken? Nein, noch alles gut. Ein Blick auf die Uhr: Das hatte ich befürchtet: Der Puls ist viel zu hoch und das liegt nicht an einem euphorischen Anfangstempo, sondern einfach an der Hitze. Akzeptieren, nicht zu ändern.

Nach fünf Kilometern sehe ich zum ersten Mal das „Go! Dad! Go!“-Schild meiner Familie – ich werde es unerwartet häufig sehen und es wird mich bis ins Ziel tragen (später zwingen). Nach zehn Kilometern redet sie dann mit mir – die Wade. Es sind keine Schmerzen, aber es fühlt sich nicht gut an. Nach zwölf ist es wieder weg, nach 14 so schlimm, dass ich befürchte, dass es gleich vorbei ist.

Ansonsten genieße ich auf den ersten 15 Kilometern die Atmosphäre in Berlin. Etliche Male habe ich meinen Namen schon gehört („Martin – weiter so!“, „Sieht gut aus, Martin!“ etc.) und dabei kenne ich niemanden. Dazu die vielen Schilder, die für Unterhaltung sorgen – einer meiner Favoriten: „Ist das ein Marathon oder eine Baustelle? Ich sehe nur Maschinen!“. Ein kleiner Junge hält ein Plakat hoch: „Papa, lauf‘ schneller, ich muss noch Mathe Hausaufgaben machen.“ Da kenne ich noch jemanden. Plötzlich höre ich vor mir einen lauten Martin-Chor. Eine Gruppe von etwa 20 Leuten schreit „Martin! Martin!“. Schön, freue ich mich, da heißt noch jemand so wie ich. Als ich gerade an der Gruppe vorbei bin, hören sie auf zu schreien und einer sagt: „Hat ihn jemand gesehen?“ – „Nein, aber der muss hier gerade durch sein.“ – „Egal, weiter: Markus, Markus“. Da haben die Zuschauer doch tatsächlich willkürlich Namen ausgewählt, von Läufern, die laut GPS-Verfolgung gerade vorbei laufen. Anders ausgedrückt: Ich war tatsächlich gemeint. Meine Gänsehaut ist wieder da.

Und die Wade? Spüre ich nach 20 Kilometern nicht mehr. Dafür merke ich, dass es heute eine Qual werden wird – ok, das ist jetzt keine Überraschung, aber ich hatte schon gehofft, mich zur Hälfte etwas fitter zu fühlen. Zwar habe ich mich an meine Vorgaben gehalten und regelmäßig in Ruhe gegessen und getrunken und meine Mütze in Wasser getaucht, aber die Hitze macht mir doch zu schaffen. Die magischen 27 Kilometer erreiche ich und viel Kraft habe ich nicht mehr. Ab jetzt setze ich mir kurzfristige Ziele – das Hauptziel: die 35 Kilometer erreichen, dann 37, dann 40, denn irgendwann lohnt sich aufgeben auch nicht mehr. Ab 30 Kilometer werden die Pausen an den Getränkestationen länger, obwohl ich kaum noch was trinke und essen kann ich auch nicht mehr. Auch die Wasserduschen lasse ich aus, mir ist mittlerweile kalt – trotz 27 Grad Außentemperatur.

Die Zuschauer, die schon seit Stunden an der Seite stehen, halten besser durch und feuern weiter mit vollem Elan an – was für eine Ausdauer. Schilder interessieren mich mittlerweile nicht mehr, außer das „Go! Dad! Go!“-Schild, dass ich bei 39 Kilometer zum letzten Mal vor dem Ziel sehe. Auf meine Frage, ob ich jetzt aussteigen dürfte, bekomme ich eine eindeutiges „Nein!“ von meiner Familie. Ich bin zwar völlig am Ende, aber tatsächlich würde ich drei Kilometer vor dem Ende lieber den Rest gehen, als jetzt noch aufzugeben.

Irgendwie quäle ich mich zur letzten Abzweigung und unter dem nicht leiser werdenden Jubel von Tausenden Zuschauern biege ich auf die Straße „Unter den Linden“ ein – ich sehe das Brandenburger Tor und weiß, ich habe es geschafft. Direkt vor dem Tor ein letztes Mal das „Go! Dad! Go“, dann noch die 200 Meter bis zur Ziellinie und endlich bekomme ich die Medaille umgehängt. Einem Fotografen zeige ich die Medaille mit der einen Hand und mit den anderen zeige ich eine 4 – es ist eine vierte Medaille. Später auf dem Foto muss ich feststellen, dass ich nicht mal mehr die Kraft hatte, den Daumen einzuknicken – ich zeige also eine 5. Habe ich nicht gemerkt. Da muss ich wohl noch nachlegen. Nächstes Jahr.

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